Im alten Blog hatte ich diverse Leseproben meiner Storys angeboten. Da sie nicht mehr aufrufbar sind, werde ich die eine oder andere ins neue Blog übernehmen. Den Anfang macht eine Novelle, die im Januar 2009 im SF-Magazin NOVA erschien und für den Deutschen Science Fiction Preis nominiert wurde. Dort ist die Geschichte über den chinesischen Papst und seine Suche nach dem Beweis für die Existenz Gottes letztlich auf einem achtbaren 3. Platz gelandet. Die Innenillustration zu meiner Novelle hat Norbert Reichinger angefertigt.
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Schöpfungsliberalismus
1
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
Das erste Buch Mose 1,1-5
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Die Vatikanischen Gärten erstrahlten in den leuchtendsten Farben. Das satte Grün der schattenspendenden Bäume hob sich vom Lindgrün der akkurat gemähten Wiesen ab und umrahmte den Nachbau der Kathedra Petri wie ein überdimensionierter Lorbeerkranz.
Johannes Paul VII. saß in einer weißen Soutane auf seinem Thron und schielte mit müden Augen geistesabwesend auf das Miniaturhologramm, das ihm auch hier draußen Heimatnähe und Geborgenheit vermittelte. Seine ausgedünnten Brauen verliehen seinem Gesicht eine weiche, fast weibliche Note, und seine straffe Haut schimmerte golden im Licht der künstlichen Abendsonne.
Allmählich kehrte sein Blick ins Hier und Jetzt zurück, wo ihm eine in den Boden versenkbare Konsole in lateinischen Lettern anzeigte, wie weit er sich von Rom entfernt hatte, seit er vor zwei Tagen von der Erde aufgebrochen war.
Stirnrunzelnd wandte er sich den beiden Männern zu, die ein wenig steif in ihren scharlachroten Soutanen mit den schwarzen Schulterumhängen vor ihm auf barocken Polstersesseln saßen. »Kommen wir zum nächsten Punkt auf der Liste«, seufzte der Papst, während er versuchte, die Konzentration wieder aufzubauen, die ihn sein gedanklicher Ausflug in die vertrauten vatikanischen Gefilde gekostet hatte.
»Die Vorbereitungen für Euren hundertsten Geburtstag, Euer Heiligkeit«, las Kardinal Orsini von der Monitorprojektion seines MultiCom ab, das auf dem Luftkissen eines Dreibeins lag.
»Können warten«, warf Johannes Paul ein und winkte müde ab. »Dazu ist nach unserer Reise noch Zeit genug. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit jetzt ausschließlich auf die vor uns liegende Mission richten.«
Orsini nickte, ohne den Papst direkt anzusehen. »Der Kommandant der Schweizergarde möchte den Sicherheitsplan für den Besuch auf Betha-Thau mit Euer Heiligkeit persönlich durchsprechen.«
»Bittet den guten Johann doch morgen zum Mittagessen«, schlug der Papst vor, »dann können wir uns darüber ungezwungen unterhalten. Das ist mir lieber als diese steifen Einsatzbesprechungen – die sind mir entschieden zu militärisch.«
»Eine gute Idee, Euer Heiligkeit, der Oberst wird sich freuen. Außerdem sind dann auch die Kommandanten der Via del Pelegrino und der Monte Palatino anwesend, und wir können alle Sicherheitsverantwortlichen in die Besprechung … in die Unterhaltung einbinden. Das erspart uns Zeit.« Orsini deaktivierte die Monitorprojektion. »Das war für den Augenblick alles, Euer Heiligkeit.« Er sah den Mann mit den graumelierten Schläfen zu seiner Linken an. »Es sei denn, Ihr hättet noch etwas …«
Kardinal Rosario schüttelte eilig den Kopf. »Nein, nein, wir haben alles Wichtige abgehandelt. Wenn Euer Heiligkeit gestatten, werde ich mich jetzt zurückziehen. Ich möchte meinen Vortrag für morgen früh noch einmal durchgehen.«
Der Papst nickte. »Natürlich, werter Freund. Es hängt viel von dieser Reise ab. Aber bei Euch weiß ich die Mission und die Vertreter der Weltpresse in den besten Händen.«
Rosario stand auf, verabschiedete sich und verließ den Audienzraum. Als Orsini sein MultiCom in der dazugehörigen Ledertasche verstaut hatte und ihm folgen wollte, hob der Papst die Rechte und bat den Kardinal, noch kurz zu bleiben.
»Lorenzo, bester Freund«, begann Johannes Paul, nachdem die Sicherheitsschleuse sich hinter Rosario geschlossen hatte, »Ihr seid weit mehr als nur mein Camerlengo. Ihr steht mir nah wie kein Zweiter, fast wie ein Bruder. Euer privater Rat ist mir unentbehrlich.«
»Das erfüllt mich mit großem Stolz, Liang.«
Der Papst beugte sich nach vorn, um dem Kardinal näher zu sein. Mit gedämpfter Stimme fragte er: »Sagt, habt Ihr schon einmal an euch gezweifelt – ich meine, hattet Ihr schon einmal wirkliche, echte Zweifel?«
*
Das Pressedeck der Via del Pelegrino war ausgestattet wie ein Fünf-Sterne-Hotel. Für den Journalistentross, der die interstellaren Reisen des Papstes begleitete, standen alle Annehmlichkeiten zur Verfügung, die der Pressedienst der Vereinten Kirche auch bei medial wichtigen Ereignissen auf der Erde bereitstellte. Allerdings war das Flaggschiff der päpstlichen Flotte in die Jahre gekommen: Das Innendesign entsprach nicht mehr ganz der aktuellen Mode, die nüchterner und zweckorientierter war.
Fabian Kemp saß an der Stirnseite eines lang gezogenen, um die silbrig glänzenden Armaturen der Zapfanlage gewundenen Obsidiantresens und beobachtete seine Kollegen, die den Anschein erweckten, bereits seit Stunden zu zechen, obwohl das Abendessen erst dreißig Minuten hinter ihnen lag. Die meisten waren derart luxuriöse Reisen nicht gewohnt und gerade dabei, ihr kindliches Staunen angesichts des altehrwürdigen Prunks wiederzuentdecken. Auch Kemp musste bis zu seiner Hochzeitsreise zurückdenken, um annähernd Vergleichbares aus seinem Erfahrungsschatz hervorzukramen. Dabei behinderte ihn jedoch die Mauer, die er um gewisse Erinnerungen hochgezogen hatte, um dem Schmerz zu entgehen, der unausweichlich damit verbunden war.
»Auch zum ersten Mal dabei?«
Kemp wurde durch die unbekannte Stimme aus seinen Gedanken gerissen und schaute irritiert auf.
Ein dunkelblonder Mann in mittleren Jahren, dem äußeren Anschein nach nur unwesentlich älter als er, stand neben dem Barhocker zu seiner Linken und stützte die Hand auf das Sitzpolster. Die Narbe an seinem Kinn war ein untrügliches Indiz dafür, dass sein Alter in etwa seinem Aussehen entsprach. Ein kleiner, relativ preiswerter ambulanter Eingriff hätte sowohl die Narbe als auch seine Krähenfüße im Handumdrehen verschwinden lassen. In punkto Eitelkeit stand er also mit dem Gastgeber dieser Reise keinesfalls auf einer Stufe.
»Äh«, stotterte Kemp und räusperte sich, »ich … ja, ich bin zum ersten Mal auf diesem Schiff.«
Der Blonde streckte ihm die Rechte hin, die Kemp mit einem entschuldigenden Lächeln drückte.
»Delbert O’Grady, London Times Net.«
»Fabian Kemp – ich … äh, ich bin freier Journalist, zurzeit in Berlin.«
O’Grady nickte ihm zu und wies auf den Hocker neben Kemp. »Darf ich?«
»Selbstverständlich! Verzeihen Sie, ich war gerade in Gedanken.«
»Das sind wir wohl alle«, meinte O’Grady und fügte mit einem Seitenblick auf eine lautstark diskutierende Gruppe drei Tische weiter hinzu: »Mehr oder weniger.«
Kemp zuckte die Achseln. »Und wie steht es mit Ihnen? Sind Sie auch zum ersten Mal bei einer Papstreise dabei?«
»Zum ersten Mal bei einer interstellaren Reise, ja. Vor vier Jahren hab ich allerdings ausführlich von seinem Skandinavienausflug berichtet. Damals war ich Leiter unseres Büros in Stockholm.«
»Ausflug?« Kemp verzog die Mundwinkel. »Soweit ich mich erinnern kann, war das doch eine immens wichtige Reise – wichtig für die Vereinte Kirche und die Kernunion.«
»So euphorisch, wie der Vatikan und die Regierungen der Kernstaaten hinterher auf die Reise reagiert haben, könnte man es fast glauben – trotzdem hat es weder den Niedergang der Vereinten Kirche noch den Bedeutungsverlust der Europäischen Union aufgehalten. Jedenfalls nicht in nennenswertem Maß. Aber immerhin hat die Show gestimmt.«
Der Barkeeper unterbrach die beiden und zog mit O’Gradys Bestellung wieder ab.
»Zu den Hofberichterstattern der Vereinten Kirche gehören Sie also nicht unbedingt«, schloss Kemp aus O’Gradys Wortwahl.
O’Grady grinste übers ganze Gesicht. »Sicher nicht – und Sie auch nicht, oder? Ich habe Ihre Artikel über die Ernennung Kardinal Engerlings gelesen. An seinem Rücktritt vor zwei Jahren waren Sie nicht ganz schuldlos, richtig?«
Kemp deutete ein Achselzucken an und nippte an seinem Caribic Flavour.
»Nur nicht so bescheiden, Kollege!«, lachte O’Grady. »Beim Abendessen saß Pierre Dequenne vom Figaro Neuf an meinem Tisch. Er hat Sie auch sofort erkannt.«
Kemp zog die Brauen hoch und nahm noch einen Schluck von seinem azurfarbenen Cocktail. Aus Ruhm und Ehre hatte er sich noch nie viel gemacht. Sein Bekanntheitsgrad öffnete ihm gelegentlich Türen, war ansonsten bei seinem Job aber eher hinderlich.
»Dequenne hat damals auch vom Skandinavientrip des Papstes berichtet«, fuhr O’Grady fort. »Er ist übrigens ebenso Atheist wie ich. Sie stehen der Vereinten Kirche auch nicht unbedingt sehr nah, oder?«
»Aus Religion mache ich mir im Allgemeinen nicht viel«, entgegnete Kemp, dessen Blick kurz abschweifte, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem englischen Kollegen widmete. »Ich glaube in erster Linie das, was ich sehe.«
»Was ja nicht unbedingt ausschließt, dass Sie an ein göttliches Wesen glauben – oder an eine höhere Macht. Meine Frau bezieht ihren Glauben an Gott aus der Tatsache, dass sie existiert und in einer Welt lebt, die ihrer Meinung nach irgendwo ihren Ursprung haben muss. Und dieses ›Irgendwo‹ ist nach ihrer Vorstellung Gott. Wenn ich ihr vorhalte, dass dieser Gott sich um seine Schöpfung herzlich wenig kümmert, entgegnet sie stets, er sei eben sehr liberal eingestellt. Besonders religiös ist meine Frau allerdings nicht, mit der Kirche hat sie nicht viel am Hut. Den Papst findet sie … ganz nett – wenn sie ihn nicht gerade als eitlen Pfau bezeichnet.« Er nahm schmunzelnd seinen bernsteinfarbenen Whiskey on the Rocks entgegen.
»Kann ja durchaus sein, dass es einen Gott gibt, der das Universum und somit auch den Menschen erschaffen und danach alles sich selbst überlassen hat. Aber warum sollte man sich mit dem Kerl befassen? Warum sollte man einen Gedanken an jemanden – oder an etwas – verschwenden, dem man selbst völlig gleichgültig ist?«
»Für meine Frau stellt sich diese Frage nicht.« O’Gradys Miene wurde ernster. »Sie glaubt, also nimmt sie bestimmte Dinge als gegeben hin. Sie hinterfragt allenfalls Details, nicht aber das große Ganze.«
»Und wie kommen Sie als Atheist damit klar?«
O’Grady nippte an seinem Drink und setzte sein Grinsen wieder auf. »Erstens darf in unserer Ehe jeder seine kleinen Eigenheiten pflegen, und zweitens sehen wir uns nur relativ selten. Es funktioniert prima. Ich freue mich schon jetzt wie ein Schneekönig auf die paar Tage, die wir zwischen dieser Reise und meinem nächsten Auftrag miteinander verbringen können.« Er zwinkerte Kemp zu. »Sind Sie verheiratet?«
Kemp schüttelte den Kopf. »Ich war es, aber das liegt fünf Jahre zurück.«
»Geschieden?«
»Verwitwet.«
Mit geschürzten Lippen schenkte O’Grady seinem Gegenüber einen mitleidigen Blick. Er setzte zu einer Erwiderung an, nahm stattdessen jedoch einen kräftigen Schluck.
»Meine Frau war sehr gläubig«, sagte Kemp, »erziehungsbedingt und geprägt durch die Umgebung, in der sie aufgewachsen ist. Und weil sie glauben wollte – ähnlich wie Ihre Frau vermutlich. Als sie krank wurde, ging sie noch häufiger in die Kirche als vorher. Aber sie betete nicht darum, wieder gesund zu werden. Sie sagte immer, es läge in Gottes Hand; sie wolle nur eine gute Christin sein – alles Weitere ergebe sich schon von selbst.« Er lachte trocken auf. »Ich habe darum gebetet, dass sie gesund wird; habe ihren Gott angefleht, angebettelt, angeschrien …«
O’Grady kniff die Lippen zusammen.
»Ich habe ihm einen Tausch vorgeschlagen«, fuhr Kemp fort. »Zehn Jahre meines Lebens – zwanzig, wenn er gewollt hätte – für noch ein paar glückliche gemeinsame Jahre.« Er sah O’Grady in die Augen. »Sind fünf oder zehn Jahre zu viel verlangt für das Opfer von zwanzig eigenen Lebensjahren?«
»Er hat nicht auf Sie gehört.«
»Nein, hat er nicht. Er hat auf uns gepfiffen.«
O’Grady überlegte kurz. »Sie glauben also an seine Existenz.«
Kemp runzelte die Stirn. »Als meine Frau die Diagnose erfuhr, habe ich angefangen zu glauben. Als sie zehn Monate später starb, war damit Schluss. Heute ist es mir egal, ob es diesen Gott gibt oder nicht. Es ist nicht wichtig für mich.«
»Weshalb sind Sie dann hier an Bord?«
»Weil ich eingeladen wurde und dies vermutlich meine einzige Chance ist, jemals nach Betha-Thau zu kommen. Mich interessieren dieser Planet und die menschenähnliche Spezies, die dort lebt. Inwieweit sich die Bethaner von der Vereinten Kirche missionieren lassen, geht mir sonst wo vorbei.«
»Wissen Sie, warum Sie eingeladen wurden?«
Kemp musterte O’Grady. »Nicht genau«, gab er zögerlich zurück, »aber der Pressedienst der Vereinten Kirche lädt eine gewisse Anzahl von Journalisten zu jeder Reise ein. Vielleicht war ich einfach an der Reihe.«
O’Grady schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht, ebenso wenig wie ich oder Pierre Dequenne. Eingeladen werden gewöhnlich nur die Hofberichterstatter, wie Sie es vorhin so treffend ausgedrückt haben. Daneben stehen ein paar Plätze für wichtige Organe der Weltpresse zur Verfügung, deren Besetzung der Pressedienst diesen Organen in der Regel freistellt. Ich bin garantiert kein Hofberichterstatter, dennoch wurde ich persönlich durch den Pressedienst eingeladen. Das Gleiche gilt für Dequenne. Und auch für Sie, möchte ich wetten. Überdies sind einige von den Leuten dort drüben«, er wies mit dem Kopf auf die munteren Gesprächsrunden im Hintergrund, »keine Reporter, sondern Wissenschaftler – Historiker, Archäologen, Anthropologen und so weiter.«
Kemp stieß die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte.
»Wenn also der Pressedienst – und somit der Vatikan – neben hochkarätigen Wissenschaftlern eine Reihe von Journalisten einlädt«, fuhr O’Grady fort, »die der Vereinten Kirche eher skeptisch gegenüberstehen und sich in der Vergangenheit durch kirchenkritische Berichte hervorgetan haben, dann stellt sich die Frage nach dem Warum, nicht wahr?«
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Story © 2009 Christian Weis
Illustration © 2008 Norbert Reichinger, mit freundlicher Genehmigung