Requisiten

Am Halloweenabend ist es seit langem Tradition, Horrorfilme zu schauen – für manchen Filmfan dürfen es auch zwei oder drei hintereinander sein. Wer sich keinen Mattscheibenmarathon antun möchte, geht vielleicht zu einer atmosphärisch gestalteten Lesung oder greift selbst zum Buch. Und wer zum Warm-Up – egal für welche Abendaktivität – gern mal ’ne Story liest, kann heute hier fündig werden.

Eine kleine, bisher unveröffentlichte Geschichte für Halloweenfans über Horrorfilmfans – genauer gesagt über Trophäenjäger, die zu (fast) allem bereit sind, um an heißbegehrte Filmrequisiten heranzukommen.

Halloween2012

Requisiten

Ihr Weg führte in eine Gasse, aus der das Sonnenlicht ebenso verbannt war wie das Straßenleben. Überhängende Dachumrandungen ließen den Durchgang wie einen Tunnel erscheinen; eng und drückend. Das genaue Gegenteil zum Hollywood Boulevard, wo sie eben noch den Walk Of Fame beschritten und sich durch das brodelnde Gewirr aus Touristen, Ghettoblastern und hupenden Autos gekämpft hatten.

Robert und Sina folgten dem hageren Mittvierziger, der sie in sein Privatmuseum eingeladen hatte, zu einem schmalen Treppenabgang. Die ausgetretenen Stufen glänzten schimmelig-feucht, und es roch nach alten Socken und verwesendem Kleinvieh. Was nahm man nicht alles für seine Passion in Kauf! Roberts Leidenschaft war, neben den Sommersprossen, die nicht nur Sinas hübsches Gesicht zierten, die Jagd nach dem ultimativen Souvenir.

Kaminski blieb unten stehen und kramte einen Schlüsselbund aus seiner weiten Schlapphose, über der er ein Leinenhemd mit schreiend bunten Karos trug. Er schob seine Sonnenbrille über die gebräunte Stirn, bis sie in der Haarpomade festklebte. Nachdem er die Stahltür geöffnet hatte, von der die mattgraue Farbe abblätterte, wies er auf den Eingang. »Bitte hier lang! Eintrittspreis wie versprochen erst hinterher, und nur so viel, wie Ihnen der Besuch wert ist.«

Ein Frösteln stellte Roberts Nackenhaare auf. Er hätte doch besser einen Pullover über das T-Shirt gezogen. Der Keller lag dunkel und kühl vor ihm. Nur die schemenhaften Umrisse zeigten ihm, dass er sich nicht in ein Schwarzes Loch hineintastete.

»Oh, Verzeihung«, brummte Kaminski in seinen wild wuchernden Schnauzbart, der mehr silbrige Strähnen als dunkle Pracht zeigte. Mit einer linkischen Bewegung schaltete er das Licht ein.

Zwei nackte Glühbirnen, die in schlichten Kunststofffassungen von der Decke hingen, ließen lediglich die nähere Umgebung gegenständlich erscheinen. Bis in die hintersten Ecken des weitläufigen Kellers reichte ihre Leuchtkraft nicht. Im ersten Moment glaubte Robert, er hätte eine Filmkulisse vor sich, in der nur der Vordergrund detailgetreu ausgearbeitet war. Der Hintergrund erschien eher wie ein gemaltes Bühnenbild. Dieser Eindruck bewahrheitete sich, als Kaminski Robert und Sina tiefer in das verwinkelte Untergeschoss hineinführte. Bei näherem Hinsehen entpuppten sich die verwitterten Schränke und Regalwände als Sperrholz- und Pappmachékonstrukte. Und selbst die Backsteinwände waren nichts anderes als eine Illusion; aufgrund der schwachen Beleuchtung war die Fototapete nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen.

»Die Einrichtung stammt zum Teil aus Psycho.« In Kaminskis Stimme, die aus dem Nichts erklang und Robert zusammenzucken ließ, schwang eine gehörige Portion Stolz mit. »Sie erinnern sich bestimmt an die Szenen im Keller des Bates-Hauses, wo Norman seine mumifizierte Mutter versteckt hat.«

Natürlich erinnerte Robert sich an den Film. Bei der Besichtigung der UNIVERSAL-Studios hatte er sich vor allem auf die Psychokulissen gefreut. In der Halle mit den Setbauten der Moteldusche, in der Janet Leigh massakriert worden war, hatte Kaminski ihn und Sina angesprochen. Zuvor hatte Robert vergeblich versucht, die Führerin der Studiotour dazu zu bewegen, ihm ein Originalrequisit zu beschaffen. Fünfhundert Dollar hatte er ihr geboten und hätte die Summe auch verdoppelt, aber sie hatte kategorisch abgelehnt. Kaminski hatte mitgehört und Robert bei nächster Gelegenheit beiseite genommen.

»Mein Vater war Pole, meine Mutter Deutsche«, erklärte er seine Sprachkenntnisse. »Wenn Sie hier im Studio versuchen, Originalrequisiten zu ergattern, bekommen Sie allenfalls irgendwelchen nachgebauten Nepp. Falls Sie wirklich interessiert sind und ein bisschen Geld anlegen wollen, dann kann ich Ihnen etwas beschaffen, das Sie zu Hause in Ihre Vitrine legen und Ihren Freunden vorführen können. Echte Requisiten, denen noch der Geruch Hollywoods anhaftet.«

Als Robert daraufhin versprochen hatte, für ein schönes Stück einen Tausender zu investieren, hatte Kaminski ihn und Sina in sein privates Filmmuseum eingeladen.

Jetzt stolzierte Kaminski auf einen reichlich lädierten Schrank zu, dem eine Tür fehlte. Im Staub, der die Einlegeböden wie eine Puderzuckerschicht bedeckte, lagen zwei Küchenmesser mit Holzgriff und langer Klinge.

»Die berühmte Duschszene, für die Hitchcock eine Woche gebraucht hat, gehört zu den meistdiskutierten Sequenzen der Filmgeschichte«, dozierte Kaminski wie ein professioneller Studioguide. Er nahm das linke der beiden Messer so vorsichtig in die Hand, als wäre es zerbrechlich. »Neben den authentischen Berichten über die Dreharbeiten gibt es noch fünfmal so viele Gerüchte, die mittlerweile zum größten Teil widerlegt sind. Was jedoch weithin unbeachtet blieb, ist die Vorgeschichte zu dieser Szene. Bei den Probeaufnahmen wurde nämlich das Bodydouble von Janet Leigh durch den dummen Fehler eines Requisiteurs verletzt. Man arbeitete damals mit zwei Messern – einer Attrappe und einem echten, das man für Einstellungen verwendete, in denen auf der Klinge aufblitzende Lichtreflexe zu sehen sein sollten. Das Perkins-Double stach bei einer Probe auf das Leigh-Double ein und verletzte die junge Frau am Arm, weil man ihm aus Versehen das echte Messer gegeben hatte.« Er hob das Requisit ins Licht und zeigte Robert und Sina die Schneide. »Das Blut ist noch auf der Klinge. Niemand hat sich die Mühe gemacht, es abzuwischen, weil das Messer ausgesondert und für die Dreharbeiten später nicht verwendet wurde.«

Robert betrachtete die braunschwarzen Flecken. »Aber … dann ist das Messer kein echtes Requisit«, überlegte er laut. »Schließlich ist es im Film ja nicht zu sehen.«

Über Kaminskis Gesicht huschte ein schmales Lächeln. »Ein Originalrequisit ist es trotzdem.« Mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Und Sie müssen ja niemandem verraten, wessen Blut das ist.«

»Hm«, brummte Robert und wechselte fragende Blicke mit Sina, die mit einem unsicheren Achselzucken antwortete. »Was … äh, wie viel möchten Sie denn dafür haben?«

»Hitchcockrequisiten sind unter Sammlern sehr begehrt und dementsprechend viel wert«, erklärte Kaminski und zog die Brauen hoch. »Fünftausend Dollar müssten Sie dafür schon berappen – das ist eine krisensichere Geldanlage. Ich nehme übrigens nur Bares.«

Robert stieß die angehaltene Luft hörbar aus. »Puh, das würde unsere Urlaubskasse sprengen.« Er schielte auf das zweite Messer. »Und … das andere?«

»Damit hat Michael Myers in Halloween gemeuchelt – im ersten Teil natürlich, die anderen waren nur Abklatsch.«

»N… natürlich«, pflichtete Robert eilig bei.

»Das Fleischermesser hab ich von Tommy Lee Wallace – eigentlich war er der Cutter des Films, aber weil Carpenter nur ein schmales Budget zur Verfügung stand, fungierte Tommy gleichzeitig als Szenenbildner. Für den dritten Teil hat er später das Drehbuch geschrieben und Regie geführt.« Kaminski schürzte die Lippen. »Tja, hätte er mal besser bleiben lassen, war ja ’n ziemlicher Flop.«

Mit leuchtenden Augen fragte Robert: »Und was soll dieses Messer kosten? Fünfzehnhundert wären drin, mehr hab ich nicht dabei.«

Kaminski schürzte die Lippen, dann legte er das Psycho-Messer sorgfältig an seinen Platz zurück, als wäre seine Position im Staub auf den Millimeter genau festgelegt. »Mal sehen«, sagte er mit der einstudierten Geste eines Gebrauchtwagenverkäufers, »vielleicht hab ich etwas anderes, das eher Ihren Vorstellungen entspricht.«

Er schlenderte scheinbar ziellos an Möbelattrappen vorbei und ließ den Blick schweifen. Vor einer Regalwand blieb er stehen und zauberte aus dem Halbschatten ein abgebrochenes Tischbein hervor, an dem eine Menge getrocknetes Blut klebte.

Robert schluckte, als er sich überlegte, von wem es wohl stammen mochte. Das leichte Kribbeln in seiner Magengegend wuchs sich zu einem unangenehmen Grummeln aus.

»Ein Requisit aus From Dusk Till Dawn«, erklärte Kaminski mit leuchtenden Augen. »Das ist dieser Streifen, den Tarantino und Rodriguez gemeinsam gemacht haben, mittlerweile ein Kultfilm. Kennt ihr den?«

Roberts Nicken kam zögerlich.

Einen Moment lang wirkte Kaminski irritiert, dann grinste er breit. »Oh, verstehe … Keine Sorge, das ist kein echtes Blut! Im Film werden die Vampire mit Billardqueues und Tischbeinen gepfählt. Das hier hat Harvey Keitel benutzt.«

Erleichtert atmete Robert auf.

Kaminski runzelte die Stirn und starrte auf das Vierkantholz. »Hm, das Teil möchte ich lieber behalten, es hängen zu viele Erinnerungen daran. Ich war nämlich als Statist am Set, müsst ihr wissen. Bin also selbst so was Ähnliches wie ein Filmrequisit, aber natürlich unverkäuflich.« Er lachte lauthals über seinen Scherz und klopfte Robert kumpelhaft auf die Schulter. »Ich hab einen Gast des Titty Twister gespielt, hatte allerdings nur einen Kurzauftritt und war später noch mal als Untoter zu sehen. Wir hatten viel Spaß bei den Dreharbeiten!«

Er deponierte das Tischbein wieder im Regal, dann hielt er sich unvermittelt den Bauch. »Sorry, mein Magen protestiert gerade, weil ich ihn heute ein wenig vernachlässigt habe.« Er steuerte auf eine Nische zu und öffnete ein Sideboard, in dem ein kleiner Kühlschrank versteckt war, der Joghurt, Blaubeermuffins und einen Sixpack Bier beherbergte. Bevor er etwas herausnahm, blickte Kaminski über die Schulter zurück. »Habt ihr auch Hunger? Die Muffins kann ich wärmstens empfehlen! Sind nach einem Rezept meiner Exgattin gebacken. War ’ne tolle Köchin, aber ’ne lausige Ehefrau. Na ja, Schwamm drüber.« Er schnappte sich eines und biss herzhaft hinein.

Robert und Sina sahen sich an. Da die Cheeseburger, die sie mittags für teures Geld auf dem Studiogelände erstanden hatten, allenfalls für den hohlen Zahn getaugt hatten, nickten sie fast zeitgleich.

Während sie von den Muffins kosteten, die nicht mehr ganz frisch waren, aber tatsächlich ausgezeichnet schmeckten, setzte Kaminski seine Runde fort und hielt Ausschau nach einem Requisit in Roberts Preisklasse.

»Gehen wir nach nebenan«, sagte er nachdenklich und blieb stehen, »dort bewahre ich ’ne Menge Kleinkram auf. Da ist bestimmt das Passende dabei.«

Er brachte Robert und Sina in einen wesentlich kleineren Raum, der vollständig gefliest war und neben einer Badewanne diverse Blechspinde beherbergte. In der Ecke stand eine Videokamera auf einem Stativ. Die Neonröhre an der Decke tauchte die hellen Fliesen in eisiges Licht, und Robert begann, am ganzen Leib zu zittern. Er wischte fahrig über seine Stirn und spürte den kalten Schweiß auf seinen Fingern.

Neben ihm taumelte Sina zur Badewanne, wo sie sich ermattet auf den Rand niederließ. Der angebissene Muffin rutschte ihr aus der Hand.

»Mal sehen, was wir hier noch haben«, brummte Kaminski, öffnete einen Spind und zog etwas Dunkles heraus, das seine Form veränderte, weshalb Robert es nicht sofort identifizieren konnte.

Kaminskis Stimme drang jetzt dumpf zu ihm durch, als befände sich ein dicker Vorhang zwischen den beiden, der den Schall weitgehend verschluckte. Robert hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, was Kaminski gesagt hatte. Seine Glieder waren plötzlich taub, als wären sie alle gleichzeitig eingeschlafen. Das Blut schien nur noch mit halber Geschwindigkeit durch seine Adern zu pulsieren. Benommen fuhr er sich mit der pelzigen Zunge über die Lippen. Sein Kopf sank auf die Brust, und er sah nur noch den Boden vor seinen Füßen. Die Fugen zwischen den Fliesen hatten eine ungleichmäßige Färbung, als wäre hier etwas verschüttet und später wieder weggewischt worden.

Dann hallte das Echo von Kaminskis Stimme in Roberts Kopf wider. »Die Muffins sind übrigens auch Requisiten für einen Film – zumindest indirekt.«

Unter größter Kraftanstrengung hob Robert den Kopf, der mittlerweile so schwer wog wie ein Amboss. Kaminskis Gesicht war verschwunden. An seine Stelle war ein schwarzes Nichts getreten, aus dem zwei Augen Robert anstarrten. Augen, die eine freudige Erregung verrieten. Allmählich dämmerte Robert, dass Kaminski eine Maske über den Kopf gezogen hatte. Zudem trug er eine dunkle Lederschürze, die bis zu den Knien reichte.

Der Blutfluss in Roberts Adern schien mittlerweile zum Stillstand gekommen zu sein. Er war zu keiner Bewegung mehr fähig. Dafür marschierte jetzt eine gefräßige Ameisenarmee durch seine Eingeweide. Ihre Bisse brannten wie Feuer.

Erneut erklang Kaminskis Stimme aus dem Nebel, der Roberts Blick verschleierte. »Das Mittel, das ich ins Backpulver gemischt habe, bewirkt eine Muskellähmung. Echt teuflisch, dieses Zeug! Hab’s selbst mal ausprobiert. Für den Film, den wir jetzt drehen, bieten mir echte Fans zwanzigtausend Dollar und mehr. Und ihr seid die Stars des Streifens! Ist das nicht besser als jedes Souvenir?«

Er trat neben die Kamera und schaltete sie ein. Dann öffnete er einen anderen Spind und holte einen schweren, unförmigen Gegenstand heraus.

Robert wurde durch ein dumpfes Poltern abgelenkt. Er nahm alle Willenskraft zusammen, die ihm noch geblieben war, und es gelang ihm, zur Seite zu schielen. Sina war vom Badewannenrand gerutscht und lag reglos am Boden. Ihr Körper war seltsam verkrampft, ihr Röcheln erstarb.

Im nächsten Augenblick knickten Roberts Knie ein, kurz darauf starrte er direkt in die Neonröhre an der Decke. Er lag auf dem Rücken und japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Vergeblich versuchte er, seiner Lunge die Luft zuzuführen, nach der sie pfeifend verlangte.

Kaminski beugte sich über ihn, drehte seinen steifen Körper zur Seite und grapschte nach seinem Hintern. Ächzend zog er Roberts Geldbörse aus der Gesäßtasche und steckte sie ein. Dann führte er ein weiteres Requisit des Films vor. Roberts Gehirn schaffte es jedoch nicht, der Form des Gegenstandes eine Bezeichnung zuzuordnen. Erst das Rattern des Kettenblattes sorgte dafür, dass sich das seltsame Bild vor seinen Augen zu einer Motorsäge entzerrte.

»Ist dir der Name Tobe Hooper ein Begriff?«, fragte Kaminski, aber Robert konnte es kaum noch verstehen. Die Worte zogen über ihn hinweg wie zerfasernde Gewitterwolken und verschwanden irgendwo in der Ferne am dunklen Horizont.

© 2012 Christian Weis

Halloween2012

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